M. Vielberg (Hrsg.): Universitäts- und Bildungslandschaften um 1800

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Titel
Universitäts- und Bildungslandschaften um 1800. 200 Jahre Philologisches Seminar in Jena


Herausgeber
Vielberg, Meinolf
Reihe
Altertumswissenschaftliches Kolloquium 27
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Julia Kurig, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr, Hamburg

Die Gründung universitärer Philologischer Seminare seit dem 18. Jahrhundert ist für die Wissenschafts- und Bildungsgeschichte von zentraler Bedeutung. Denn das Philologische Seminar – zum ersten Mal 1738 an der neu gegründeten „Aufklärungs“-Universität Göttingen eingerichtet – war als Verwaltungs-, Organisations- und Veranstaltungsform nicht nur für die Geschichte der Lehrerbildung und für die schulische Professionalisierung des philologischen Wissens eine wirkungsmächtige Innovation, sondern auch für die Herausbildung „forschenden Lernens“ und die Konzeption der modernen Forschungsuniversität.1 Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung und Ausstellung an der Universität Jena aus Anlass des 200-jährigen Bestehens des dort 1817 gegründeten Philologischen Seminars.

Der Band umfasst sechs Aufsätze, die die Seminargründung mal in weiterer, mal in engerer Perspektive kontextualisieren. Zunächst stellt Klaus Ries den Ort Jena in der Universitätslandschaft des 18. und frühen 19. Jahrhunderts dar (S. 19–37), korrigiert die einseitige Fixierung auf die Berliner Universität als Prototyp der „klassischen Universität“ und präsentiert Jena als interessantes und alternatives Reformmodell eines universitären Weges in die Moderne. Dabei werden die spezifischen politischen und institutionellen Strukturbedingungen der Universität – vor allem die Rolle der Jenaer Universität im „Ereignisraum Weimar-Jena“ und ihre „Vier-Nutritoren-Verfassung“ – als Voraussetzung ihrer wissenschaftlichen Innovativität analysiert. Für die Entstehung modernen politischen Gelehrtentums war dabei insbesondere Jenas scheinbar rückständige korporativ-ständische Struktur entscheidend, die sich in jenem Augenblick als modernisierendes Element erwies, als sich die altständische Subsistenzgemeinschaft aus Professoren und Studenten über politischen Druck zu einer liberal-national denkenden „modernen Gesinnungsgemeinde“ (S. 31) zusammenschloss, die 1817 auf dem Wartburgfest öffentlich sichtbar wurde.

Findet Ries in den territorialen Umweltbeziehungen und der Verfasstheit der Universität Voraussetzungen für Innovation, so behandelt Felicitas Marwinski eine weitere zentrale Bedingung des Wissenschaftsstandortes Jena: die Vielzahl der seit dem Ende des 17. Jahrhunderts entstehenden Jenaer gelehrten Gesellschaften mit ihrer für die Aufklärung zentralen Funktion als Bildungs-, Forschungs- und Kommunikationszentren (S. 39–77). Ist die Geschichte der gelehrten Gesellschaften für den wissenschaftskulturellen Ballungsraum Mitteldeutschland bereits seit einigen Jahren verstärkt Gegenstand wissenschaftlicher Forschung2, so konkretisiert Marwinski diese raumbezogene Perspektive fakten- und detailreich für Jena. Im Hinblick auf die Vorgeschichte des Philologischen Seminars sind vor allem zwei Gründungen interessant: die der „Teutschen Gesellschaft“ von 1728, deren Aufgabe als „studentische Übungsgesellschaft“ (S. 44) darin bestand, die muttersprachlichen Kompetenzen der Studenten zu fördern; ihr trat seit 1733 komplementär eine „Lateinische Gesellschaft“ an die Seite, die zuständig war für die Pflege lateinisch-sprachiger Kompetenzen und mit dieser Aufgabe dem Philologischen Seminar vorausging. Im Anschluss rekonstruiert Gerhard Müller am Briefwechsel zwischen Karl Abraham Eichstädt (1773–1848), dem Gründer des Philologischen Seminars 1817, und den Weimarer Ministern von Goethe und von Voigt das Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik in den Jahren nach 1800 und beleuchtet dabei neben Goethes Universitätspolitik vor allem die Rolle Eichstädts als „heimlicher Kanzler“ der Universität Jena (S. 79–88).

„Vorgeschichte, Voraussetzungen und Verlauf der Gründung des philologischen Seminars in Jena“ (S. 89–106) stehen im Aufsatz von Meinolf Vielberg im Fokus. Dabei behandelt er auf der Grundlage des aus dem Stadtarchiv Erfurt in das Jenaer Universitätsarchiv gelangten, bislang unbekannten und am Ende des Bandes abgedruckten Nachlasses „Heinrich Carl Abraham Eichstädt – Lateinische Gesellschaft“ vor allem die Rollen Eichstädts und seines 1817 zum Professor der griechischen Literatur und zum Mitdirektor des philologischen Seminars berufenen Kollegen Ferdinand Gotthelf Hand (1786–1851) im unmittelbaren Prozess der Gründung. Obwohl es die Universität Jena war, an der Johann Matthias Gesner bereits 1715 in seinen – von Vielberg selbst neu herausgegebenen und übersetzten3 – „Institutiones rei scholasticae“ ein Konzept für die Gründung eines solchen Seminars entwickelt hatte, dauerte es erstaunlicherweise noch bis 1817, bis die Idee in Jena mit Verspätung gegenüber einigen anderen Universitäten verwirklicht wurde. Vielberg erklärt dies mit der intellektuellen, politischen und finanziellen Krise der Universität vor und nach der Schlacht von Jena und Auerstedt und den erst mit der Konsolidierung der Universität als staatlicher Anstalt 1816/17 geschaffenen, auch finanziellen und verwaltungsmäßigen Voraussetzungen für eine Seminargründung. In Hinsicht auf die unmittelbare Vorgeschichte der Gründung 1817 rekonstruiert Vielberg, dass von beiden Direktoren des Philologischen Seminars – Eichstädt und Hand – Entwürfe für Statuten des neuen Seminars vorgelegt worden waren, sich aber Eichstädts Versuch einer Verbindung der „Lateinischen Gesellschaft“ mit dem Seminarium philologicum nicht durchsetzen konnte.

Angelika Geyer informiert im Anschluss über die Genese der Klassischen Archäologie an der Universität Jena (S. 107–135), insbesondere über Vorgeschichte und Gründung des Jenaer Archäologischen Museums im Jahre 1846 – die Ausdifferenzierung der Archäologie ist ein zentraler Prozess in der Geschichte von Philologie und Altertumswissenschaft. Dabei ordnet Geyer die Entstehung der Jenaer Klassischen Archäologie in die Vorgeschichte der neuen Griechenland-Rezeption seit Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) und die Rezeption des antik-griechischen Ideals im Weimarer Kreis um Goethe ein. Angesichts der Weimarer Konstellationen ist es erstaunlich, dass Jena auch im Hinblick auf die Begründung der Archäologie eher spät dran war, wenn man bedenkt, dass in Göttingen bereits Christian Gottlob Heyne 1767 die Archäologie durch eine Vorlesung und eine Abguss-Sammlung etabliert hatte und damit die „philologische“ Erforschung der klassischen Antike durch die Einbeziehung der materiell-künstlerischen Hinterlassenschaften der Antike entscheidend erweitert hatte.4 In Jena beförderte erst Carl Wilhelm Goettling (1793–1869), der 1822 berufene Professor für Philologie, die Archäologie, für die er auf Reisen in den Mittelmeerraum entscheidende Anstöße erhielt. Der Band schließt ab mit einem etwas aus dem Rahmen der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte herausfallenden fachdidaktischen Aufsatz von Hans-Joachim Glücklich mit dem Titel „Texte lesen, verstehen, interpretieren“ (S. 137–191), der gleichwohl mit 55 Seiten etwas über 25 Prozent des Gesamttextes ausmacht.

Der Sammelband bietet vielerlei Erkenntnisse zur Jenaer Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte um und ab 1800 und rekonstruiert die Innovativität des Wissenschaftsstandortes in mancherlei institutionen-, personen- und ereignisgeschichtlichen Aspekten. Im Dunkeln bleibt letztlich allerdings, warum sich diese Innovativität trotz der Bedeutung der Antike-Rezeption im „Ereignisraum Weimar-Jena“ in der Gründung des Philologischen Seminars 1817 lange Zeit gerade nicht abbildete – Göttingen (1738), Kiel (1777), Erlangen (1778) und viele weitere Universitäten gingen Jena weit voraus. Für die Aufklärung dieser Frage aber wäre eine stärkere Verknüpfung institutionen- und wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen nötig gewesen. So hätte man gerne erfahren, wie sich die in Jena mit Fichte, Schelling und dem jungen Hegel so gut beheimatete idealistische Philosophie zur Entwicklung der Jenaer Philologie verhielt. Denn die Philologie und mit ihr das Philologische Seminar hatte sich im 18. Jahrhundert besonders innovativ gerade im „Metaphysik-freien“, empiristischen und historistischen Raum der Universität Göttingen entwickelt.5 Gerne hätte man auch mehr gewusst über die Art der Philologie, die Eichstädt, der als „großer Redner“ gepriesen wurde, vertrat. War es die alte, auf aktivsprachliche Kompetenzen ausgehende rhetorisch-poetische Philologie oder gab es auch bei ihm Tendenzen zu einer historischen und philosophischen Neuerschließung der antiken Literatur, wie sie für den Neuhumanismus um 1800 zentral war? Schließlich erfährt man im Band leider auch wenig über die inhaltlichen und organisatorischen Strukturen der im Philologischen Seminar organisierten Lehrerausbildung. Waren die Mitglieder des Seminars noch Angehörige der theologischen Fakultät oder bereits einer mit einem unabhängigen Abschluss versehenen Philosophischen Fakultät? Welche Praxisformen herrschten im Seminar, das eben nicht nur eine eigene Verwaltungseinheit, Organisationsform und Örtlichkeit war, sondern auch ein neuer Veranstaltungstyp, in dem – revolutionär für die Geschichte des bislang in Vorlesungen bzw. Kollegien organisierten universitären Lehrens und Lernens – studentische Mitarbeit und kritische Diskussion gefragt waren? Insgesamt also würdigt der Band die Gründung des Jenaer Philologischen Seminars und erschließt wichtige Kontexte. Aber für die Erforschung von dessen bildungshistorischer Bedeutung bedarf es weitergehender Studien, die personen- und institutionengeschichtliche Aspekte stärker mit wissenschaftshistorischen Perspektiven verbinden.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu am Beispiel des Philologischen Seminars in Halle: Carlos Spoerhase / Mark-Georg Dehrmann, Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5/1 (2011), S. 105–117.
2 Detlef Döring / Kurt Nowak (Hrsg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820). Teil 1–3, Leipzig 2000–2002.
3 Johann Matthias Gesner, Institutiones rei scholasticae. Leitfaden für das Unterrichtswesen, hrsg. und übers. von Meinolf Vielberg, Wiesbaden 2013.
4 Dazu Daniel Graepler, Antikenstudium für junge Herren von Stand. Zu Christian Gottlob Heynes archäologischer Lehrtätigkeit, in: Balbina Bäbler / Heinz-Günther Nesselrath (Hrsg.), Christian Gottlob Heyne. Werk und Leistung nach zweihundert Jahren, Berlin 2014, S. 75–108.
5 Vgl. dazu Ulrich Schindel, Die Anfänge der Klassischen Philologie in Göttingen., in: Reinhard Lauer (Hrsg.), Philologie in Göttingen. Sprach- und Literaturwissenschaft an der Georgia August im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Göttingen 2001, S. 9–24.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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